Um es vorweg zu nehmen, Etikette ist ein Lernprozess, der nie endet.

Für die meisten, die zum Schnuppertraining kommen, bedeutet Budo, egal in welcher Form, Sport und Selbstverteidigung. Vielleicht hat jemand mal etwas von Etikette gehört, es bleibt jedoch etwas Abstraktes.
Der erste Kontakt ist dann das Begrüßen und Verneigen, diese fremdartige Art des Trainingsbeginns und -endes. Je länger man dann dabei ist, desto mehr erschließt sich einem scheinbar die Etikette.
Da wird einem ein Zettel mit einer Dojoetikette in die Hand gedrückt, man liest diese und denkt dann, „ Alles klar!“.

Aber ist das so?

Ich habe am Anfang gesagt, es ist ein Lernprozess. Verneigen, Grüßen etc. sind alles äußere Erscheinungsformen der Etikette, doch das ist nur die Oberfläche. Das erschließt sich dem Schüler am Anfang am schnellsten. Der eigentliche Sinn geht tiefer.

Wie entwickelt sich das Verständnis von Etikette? Kann man es messen?
Budo basiert auf einem hierarchischem System,  die Schüler, die Lehrer, die Meister und Großmeister. In diesem System hat jeder seinen Platz und damit verbundene Rechte und Pflichten.
Mit dem Tag, an dem man beginnt, den Weg (Do) zu gehen, geht man eine Verpflichtung ein.
Der Lehrer erklärt sich bereit, sein Wissen weiter zu geben. Der Schüler verpflichtet sich, dieses Wissen nach besten Können und Gewissen aufzunehmen und dem Weg des Lehrers zu folgen.
Verbunden damit ist das Erlenen der ethischen Hintergründe des Budo. Das unterscheidet Budo von anderen Sportarten.
Jeder kann darauf vertrauen, dass ihm beim Beschreiten des Weges geholfen wird.
Für den beginnenden Schüler gibt es in der Etikette viele Stolperfallen. Sollte er Fehler machen, was ganz normal ist, ist es in erster Linie Aufgabe der höher graduierten Schüler, ihm seine Fehler aufzuzeigen und den richtigen Weg zu weisen. Andersrum hat der beginnende Schüler sich bei Fragen an den höher graduierten Schüler zu wenden. Erst, wenn dieser seine Frage nicht beantworten kann, richtet er seine Frage an den Lehrer. So entwickelt sich das Verständnis von Etikette beim Schüler im Laufe der Zeit. Je weiter man auf dem Weg geht, je höher man in seiner Graduierung ist, desto größer wird auch der Anspruch des Lehrers an die Etikette des Schülers. Die Einschätzung durch den Lehrer, ob jemand die Ansprüche an die Etikette erfüllt, ist immer subjektiv.
Der Fortschritt des Schülers beim Erlernen der Kampfkunst spiegelt sich auch in der Ausführung der Etikette wieder.
Grundlage einer korrekten Etikette ist vor allem eine regelmäßiges Trainingsteilnahme. Und hier muss ich leider sagen, lässt dieser Teil der Etikette bei einigen zu wünschen übrig. Die Lehrer stellen ihre Zeit und ihr Wissen zur Verfügung und man ist immer wieder überrascht, wer einem mit der Ehre seiner Anwesenheit im Training  beglückt. Ich habe schon erwähnt, Budo und Etikette sind Vertrauenssache.
Für mich der erste Vertrauensbruch. Natürlich studieren und arbeiten viele Schüler. Aber in Zeiten von Mobilfunk und anderen elektronischen Medien brauch mir keiner erzählen, dass er sich nicht abmelden kann. Was würde der Schüler sagen, wenn die Halle geschlossen ist, der Lehrer keine Lust hat und nicht zum Training kommt?  Vertrauen geht immer in zwei Richtungen.

 

Jetzt noch Antwort auf häufig gestellte Fragen.

Handelt es sich um ein Gesetz oder weit gefasste Verhaltensempfehlungen?
Etikette im Budo ist ein ungeschriebenes  Gesetz. Die traditionelle Grundlage bilden jahrhunderte alte Regeln des Zusammenlebens in den Herkunftsländern der jeweiligen Kampfkünste. Hier liegt auch die Ursache für die geringen Unterschiede in der Ausführung der Etikette (z.B. Anrede, Formen der Ehrerbietung).  Bei korrekter Wahrung der Etikette ist dadurch ein friedliches Neben- und Miteinander verschiedener Kampfkünste möglich.

Hat der Lehrer immer recht?
Im Unterricht erst einmal ja. Der Schüler hat nicht das Recht über Übungsinhalte und Techniken zu diskutieren. Er steht in der Pflicht, das vom Lehrer Demonstrierte zu üben und sich anzueignen.
Im Gegenzug kann er darauf vertrauen, dass der Lehrer den Schüler entsprechend dem jeweiligen Leistungsniveaus unterrichtet. Treten während des Übens Fragen und Probleme auf, besteht immer die Möglichkeit respektvoll nachzufragen.

Wen kann ich um Hilfe und Rat fragen?
Hier tritt immer die Hierarchie in Kraft.
Bei Fragen außerhalb des Übens wendet man sich als erstes an höher graduierte Schüler. Oftmals lösen sich hier schon die Probleme. Der nächste Ansprechpartner wäre dann der Lehrer. Sollte dieser keine Antwort zu dem Problem haben, auch ein Lehrer steht selbst im Lernprozess, wird dieser sich an seinen Meister wenden und dessen Antwort dann weitergeben.
Sollte ein Lehrer seiner Verantwortung oder seinen Pflichten gegenüber seinen Schülern nicht nachkommen oder selbst die Etikette verletzen, dann ist ein Schüler auch berechtigt sich an den Meister zu wenden und um Lösung des Problems zu bitten.

Warum gibt es diese Hierarchien?
In vielen Ländern erfolgte das Erlernen von Kampfkünsten in Familienstrukturen. Diese waren nach  Generationen aufgegliedert. Der Älteste war das Familienoberhaupt. Im Budo ist es heute noch so ähnlich. Allerdings gliedert es sich nicht nach Lebensalter sondern nach dem Wissensstand.

Die Höhe der Graduierung ist ein Ausdruck der Dauer des Praktizierens und des erreichten Niveaus in der jeweiligen Kampfkunst.  Zwischen jeder Generation gibt es eine Lehrer- Schüler-Beziehung.
Meister - Lehrer
Lehrer - Schüler
Ziel sollte es sein, dass der Schüler sich zum Lehrer und später zum Meister entwickelt und so neue Generationsbeziehungen entstehen. Traditionell besteht ein Lehrer-Schüler-Beziehung ein Leben lang, selbst wenn der Schüler den Lehrer später in der Graduierung überholt.
Durch diese hierarchische Struktur wurde das Überleben der Kampfkünste gegenüber jeglichen äußeren Einflüssen gesichert.
Das Verständnis dieser Hierarchie, das Wissen um den eigenen Platz mit all seinen Rechten und Pflichten in diesem System ist Grundlage, um Etikette im Budo zu verstehen und zu leben.

Darf man Kritik üben?
Natürlich. Jeder stelle sich jedoch die Frage, wie äußere ich Kritik im täglichen Leben.

Eine respektvolle Kritik zu Problemen, deren Lösung uns beim Erlernen der Kampfkunst weiterbringt ist immer angebracht.
Nur so viel, wie im alten deutschen Sprichwort,  "Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus."

Das klingt alles so ernst, darf man beim Erlernen einer Kampfkunst Spaß haben?
Kampfkünste sind eine ernste Sache. Bei  Unachtsamkeit kann man beim Üben seinen Partner schwer verletzen. Konzentriertes Arbeiten ist also zwingend notwendig, besonders im Umgang mit Waffen.

Trotzdem habe ich persönlich immer Spaß gehabt und viel gelacht, jedoch immer in den passenden Momenten.

Um zum Schluss zusammen zu fassen, für mich bedeutet Etikette respektvoller Umgang mit anderen Menschen, egal ob zu Schülern, meinen Meistern, zu Meistern und Schülern anderer Kampfkünste. Diese Etikette sollte sich auch im alltäglichen Verhalten in Familie, Schule und Beruf  widerspiegeln.

Ich wünsche Euch viel Erfolg beim Erlernen der Kampfkünste.


Jahr
2017
Autor des Textes
Shihan Torsten Kosuch (6. Dan Jiu Jitsu)